Da, wo ich bin, will ich nicht sein

 

Eigentlich ist alles gut. Und eigentlich ist mein Lieblingswort, weil es zu oft durchschimmern lässt, dass das Gegenteil dessen gemeint ist, was da gesagt wird. Eigentlich ist sozusagen der Spalt im Vorhang, der dir Wahrheit zu verstecken versucht. Wie der Spalt im Vorhang vor einem Regal, das absolutes Chaos beherbergt. Der Vorhang wird aufgehängt, um das Chaos zu vertuschen, doch das Eigentlich ist der Spalt, der die Wahrheit erahnen lässt. Genau so eigentlich ist alles gut.

 

Also ist, um wahr zu sein, nichts gut. Denn mein Kopf ist wie das Regal und alles darin ein Chaos. Und ich schaffe es nicht länger, den Vorhang geschlossen zu halten. Es gibt immer einen Punkt, an dem ich nicht mehr alleine mit dem Chaos zurechtkomme und den Vorhang fallen lassen muss. Manchmal halte ich es ziemlich lange aus, alleine mit dem Chaos, aber irgendwann kommt immer dieser Punkt. Der Punkt, an dem ich mit jemandem sprechen und jemanden um Hilfe bitten muss. Und das kann ich wirklich nicht gut. Aber ich lerne es - zwangsweise.

 

Gerade macht mich das Chaos orientierungslos. Ich sehe nichts mehr und weiß nicht mehr weiter. Ich habe meinen Weg verloren. Dass ich immer mal wieder schwanke oder Kurven anstatt geradeaus gehe, ist normal. Aber gerade bin ich so richtig schön weit abgekommen. Von dem Weg, der mich durch das Dickicht dieser riesigen Arbeitswelt führt. Der Weg, auf dem es mir gut geht, auf dem ich das tun kann, was mir Spaß und für mich Sinn macht. Da, wo ich bin, geht es mir nicht gut. Hier tu ich zwar was und davon ganz schön viel, aber es fühlt sich nicht spaßig an und sinnvoll ohnehin nicht. Und deshalb ist in meinem Kopf Chaos, in meinem Bauch lauter Alarm und in meinem Herz dreht der Kompass durch. Da, wo ich bin, will ich nicht sein.

 

Denn in den letzten Jahren habe ich gemerkt, dass ich tief in meiner Brust einen festverankerten Kompass trage. Den sieht von außen keiner. Und mögen mich die Leute auch als naiv bezeichnen: Ich nehme es ihnen nicht übel, schließlich fühlen sie den Kompass nicht. Der ist krass. Der sagt genau, ob rechts oder links oder geradeaus. Der kennt den besten Weg für mich. Den Weg, auf dem ich am meisten erleben und wachsen kann. Den Weg, auf dem es mir gut geht und der mich durch das schönste Leben führt. Meine Aufgabe ist es dabei nur, hinzuhören. Und das kleine Wort "nur" ist hier fast fehl am Platz, denn das Hinhören ist mit das schwierigste. Weil alle Geräusche um mich herum so viel lauter sind, als würden sie um jeden Preis versuchen, meinen Kompass zu übertönen. Das sind die Stimmen von Familie und Bekannten, die Sätze sagen wie "Das geht doch nicht!", "Das schaffst du nicht!" oder "Das ist zu riskant!". Das sind die Stimmen der Gesellschaft, die mir einen bestimmten, am liebsten den sichersten Weg vorzuschreiben versuchen. Das sind die Stimmen meiner eigenen Ängste und negativen Gedanken. So viele Geräusche, die es mir erschweren, meinem Kompass zu folgen.

 

So wie jetzt. Das Chaos in meinem Kopf ist zu laut. Also habe ich begonnen, Leuten davon zu erzählen. Und zu erzählen hilft dabei, das Chaos etwas aufzudröseln. Ein bisschen klarer zu sehen, ein bisschen besser zu hören. Vorausgesetzt, es sind die richtigen Leute, die es verstehen, einfach nur zuzuhören. Wenn die mir zuhören, wird das Chaos ein bisschen leiser und dann fällt es mir auch irgendwann wieder leichter, meinem Kompass zuzuhören. Das Schwierigste ist dabei mal wieder, wie so häufig, das Vertrauen. Das Vertrauen darauf, dass sich das Chaos lichten und beruhigen wird. Das Vertrauen darauf, dass mein Kompass noch funktioniert. Das Vertrauen darauf, dass ich mit ihm am meisten erleben und wachsen und das schönste Leben haben werde.

 

In diesem Moment ist noch nichts gut. Und es wird auch noch dauern bis ich wieder zu meinem Weg zurückgefunden habe. Ich lerne, in kleinen Schritten zu gehen. Sobald der Vorhang gefallen ist, erwarte ich, die Lösung vor die Füße gelegt zu bekommen. Aber so funktioniert es selten. Also erzähle ich und lasse mir zuhören und höre selbst zu und gehe kleine Schritte und vertraue. Bis ich irgendwann da bin, wo ich sein will.