Von Zwängen und Perfektion

 

Unter einem Instagrampost habe ich eine Liste von To-Dos für den Herbst gesehen. Da standen so schöne Dinge wie Herbstspaziergänge, Kürbissuppe und Harry-Potter-Marathon. Und ich dachte sofort: Oh ja, ich mache mir auch eine Liste. Und dann dachte ich: Nein, mache ich nicht.

 

Mein ganzes Leben besteht aus Listen. Für den Kurztrip am Wochenende müssen bestimmte Sachen eingepackt, die nächsten Wochen bestimmte Aufgaben erledigt, sich für Weihnachten spezielle Wünsche überlegt werden. Die Notizen auf meinem Handy sind eine einzige Sammlung von Bullet Points in Listen. Und das ist natürlich gut. So sorge ich für Ordnung und vergesse selten etwas. Ich bin nun mal ein strukturierter Mensch, der in allem Struktur braucht. In wirklicht allem. Immer. Es könnte sein, dass ich beinah nervös werde, wenn ich für etwas keine Liste habe. Es könnte sein, dass man das "beinah" auch streichen kann.

 

Und genau das ist der Haken. Der Haken hinter all den Haken, die ich in die abzuhakenden Kästchen gemalt habe. Dieser Struktur- und Listendrang birgt das Potenzial, auszuarten und mich einzuengen. In jeder Liste klingen das "Müssen" und Druck mit. Und dieses "Müssen" definiere ganz allein ich. Denn Listen warten darauf, abgearbeitet zu werden. Schwarz auf Weiß vor mir flüstern sie mir unaufhörlich zu, welche Punkte noch offen sind. Im gleichen Raum mit all den Listen wird das Flüstern zum Rauschen, das ich kaum ignorieren kann. Und das Rauschen wird zum dauerhaften schlechten Gewissen, mit dem es sich nur schwer entspannt leben lässt. Und das will ich nicht mehr. Daher komme ich nicht umhin, mich zu fragen:

 

Woher kommt dieser Drang?

 

Die Listen sind nur das Symptom. Die Ursache sitzt tiefer. Ich will gut sein. Gut genug. Besser als gut. Am besten perfekt. Ich will nicht faul sein. Ich will aktiv sein. Ich will, dass mich andere mögen. Ich will, dass andere stolz auf mich sind. Ich will etwas schaffen, etwas erreichen. Ich will mich gut fühlen.

 

Irgendwann habe ich wohl beschlossen, dass ich gut genug bin und gemocht werde, wenn ich möglichst viel schaffe. Sei es, aufzuräumen, berufliche Aufgaben zu erledigen oder Träume zu verwirklichen. Wenn ich am Ende eines Tages viele erledigte Dinge aufzählen und auf meinen Listen abhaken kann, fühle ich mich gut. Wenn ich das jemandem erzählen kann, fühle ich mich noch besser. Wenn ich nicht alles geschafft habe, fühle ich mich schlecht. Ich mache mich und mein Wohlbefinden abhängig von meinen To-Dos bzw. von den Haken dahinter. Ich fühle mich als schwebte ich zusammen mit all meinen Listen in einer Perfektionsblase und der Sauerstoff ginge langsam aus. Langsam aber sicher fehlt mir die Luft zum Atmen und irgendwann ersticke ich an meinen selbst definierten, unbedingt einzuhaltenden Zielen.

 

Unperfekt perfekt sein

 

Natürlich klingt das dramatischer als es ist. Aber womöglich verstehe ich selbst nur so drastisch ausgedrückt, was ich mir da aufhalse. Denn Perfektion ist ein Mythos. Wovon man sich erzählt, wovon man träumt. Ein Traum, der nie verwirklicht werden kann. 

 

Warum ich mich dazu entschieden habe, diese Liste für den Herbst nicht anzulegen? Weil ich es verstanden habe und anders machen will. Weil mir klar geworden ist, dass ich etwas ganz anderes sein will als perfekt. Dass die nie eintretende, die nie zu erreichende Perfektion nicht länger mein übergeordnetes Ziel sein soll. Es ist etwas anderes, das ich sein will: authentisch. Und damit so unperfekt, wie ich nur sein kann. So vollkommen auf die unvollkommenste Art. Und dafür bringe ich die Blase ein für alle mal zum Platzen, um wieder atmen können und frei zu sein. Denn wenn ich frei bin, bin ich die authentischste Version meiner selbst.

 

Loslassen. Annehmen. Aushalten.

 

Allerdings ist das, was so leicht klingt, so schwer für mich. Das Fliegen ohne Blase und die Leichtigkeit sind das schwerste. Denn Fliegen bedeutet Fallenlassen und Fallenlassen bedeutet Loslassen. All die Stränge, die mich gehalten haben: die Listen, die Struktur, die Perfektion. Die sichere Blase um mich zum Platzen bringen und darauf vertrauen, dass ich fliegen werde anstatt zu fallen und am Sturz kaputtzugehen. Darauf vertrauen, dass ich auch ohne das Streben nach Perfektion gut genug bin. Das ist schwer, denn meine schwachen Arme krallen sich an alles, was Sicherheit verspricht. Aber das, was mich in den Wolken erwartet, wenn ich denn dann fliege, klingt so viel schöner, so viel echter, so viel lebendiger als das Rauschen der Perfektion.

 

Und ich möchte lernen, anzunehmen und auszuhalten. Ich möchte aushalten, dass ich nicht immer meine wundervollste Version bin. Dass ich Dinge vergesse, dass ich Fehler mache, dass ich auch mal gar nichts schaffe. Dass ich nur wenige oder keinen Haken machen kann. Dass ich Tage lang nur vor mich hin träume anstatt zu schreiben. Dass ich traurig oder genervt oder melancholisch bin. Dass andere nicht gut finden, was ich mache oder nicht mache. Alles, was sich bisher fürchterlich unbequem und schlecht angefühlt hat, möchte ich aushalten. Nicht aus Gründen der Selbstkasteiung, sondern aus der größtmöglichen Liebe zu mir selbst.

 

Denn mein Ziel ist nicht die Perfektion. Mein Ziel ist eine tiefe Liebe für mich selbst, die an keinerlei Bedingung geknüpft ist.