Vom Gefühl, nicht genug zu sein

 

Ich wache mit Kopf- und Bauchschmerzen auf. Ich weiß nicht, woher sie kommen. Ich weiß nur, dass sie nicht zu gehen scheinen. Und wenn sie nicht gehen, muss ich entscheiden, ob ich gehe. Ob ich aufstehe, mich anziehe und zur Arbeit gehe. Mit Abschicken der Nachricht an meine Kollegin legt sich dann das schlechte Gewissen mit zu mir ins Bett.

 

Mir wurde früher häufig gesagt, dass ich faul sei. Irgendwann habe ich begonnen, das selbst zu glauben. Dieser fiese Glaubenssatz hat die Gestalt eines Faultiers, das mich fest um meinen Hals geschlungen überall hin begleitet. Und wenn ich etwas aus irgendwelchen Gründen nicht tu, starrt es mich an mit seinen Kulleraugen und erinnert mich daran. Und dann gehen die Alarmglocken in meinem Kopf an und hören nicht auf mit ihrem schrillen Klang, bevor ich nicht etwas tu.

 

In manchen Momenten ist mein Faultier der Endgegner meines Schweinehundes und übernimmt damit eine durchaus nützliche Position. Dann putze ich die Wohnung an einem Sonntagmittag, auch wenn sich zu Faultier und Schweinehund noch ein fieser Kater gesellt hat. Dann setze ich mich danach noch an den Laptop und recherchiere und schreibe Texte, auch wenn Sonntag ist. Aber wenn ich krank im Bett liege, bereitet mir das Faultier bloß noch mehr Kopfschmerzen.

 

Dann fühle ich mich ein weiteres Mal nicht genug. Und irgendwie falsch.

 

Dann kommen Gedanken wie "Werde ich mit dieser Arbeitseinstellung jemals weit kommen?", "Deine Kollegen würden mit den Kopfschmerzen sicher trotzdem auf die Arbeit", "Wieso steckst du nicht so viel wie deine Kollegen in die Arbeit, wo diese Arbeit doch immer dein Traum war?". Ich bin mir bewusst darüber, dass Vergleichen nicht der richtige Weg ist. Weil jeder von uns seine individuellen Grenzen hat. Trotz allem komme ich nicht umhin mich zu fragen, ob ich mit meinen Grenzen und dem Einhalten dieser in dieser Gesellschaft weiterkommen kann. Das Achten und Einhalten meiner Grenzen scheint zu bedeuten, dass ich nicht genug Leidenschaft für meine Arbeit mitbringe. Dass ich nicht genug investieren, nicht genug (auf)geben möchte, um mit dem erfolgreich zu sein, was ich liebe.

 

Auf sich achten = kein Erfolg. Ist es diese Gleichung, die gilt?

 

Natürlich muss ich differenzieren. All die schweren Gefühle und Gedanken sind zunächst einmal nur meine Gefühle und Gedanken. Das ist noch lange nicht die Realität. Das Gefühl, nicht genug zu sein, basiert auf verschiedensten Faktoren. Der verinnerlichte Glauben, nicht faul sein zu dürfen, da das weniger Anerkennung bedeutet, spielt eine Rolle. Meine Definition von Erfolg spielt eine Rolle. Und die Erfahrungen, die ich gemacht habe, spielen eine Rolle. Wie hat mein Umfeld bisher auf meine Grenzen reagiert? Wurden sie akzeptiert? Das ist ein Eimer voller Erfahrungen, Gedanken und Gefühle. Je länger ich ihn mit mir herumschleppe, desto weniger kann ich unterscheiden, ob es nun mein Gefühl oder die Gesellschaft ist, die mir etwas eintrichtert.

 

Und während ich hier im Bett liege, scheint sich der Eimer über mir zu leeren. Ich liege und spüre eine Schwere auf mir. Als mir bewusst wird, dass ich mich mal wieder unbedeutend, unfähig, zu klein, zu wenig fühle, kommen mir die Tränen. Ich kämpfe so oft gegen mich selbst. In einer Gesellschaft, deren Maßstäbe ich nicht im Stande bin, einzuhalten, halte ich selbst nicht zu mir. Im Gegenteil. Immer wieder stehe ich auf, nehme Mistgabeln und Fackeln in die Hand und zwinge mich selbst auf den Scheiterhaufen. Auf den Haufen für Gescheiterte. Denn das ständige Gefühl von Nicht-Genug-Sein kommt dem Gefühl von Scheitern sehr nah. Und irgendwann ist es nicht länger ein Gefühl, irgendwann ist es meine Realität.

 

Insgeheim kenne ich aber die eigentliche Realität. Irgendwo, zwischen Nebelschwaden an Gedanken und Achterbahnen von Gefühlen, versteckt sich ein kleiner Funke Wissen, dass es nicht stimmt. Dass es einfach nicht wahr ist. Hinter all dieser Unsicherheit ist da eine Sicherheit darüber, was ich will. Ich will erfolgreich sein in dem, was ich liebe. Ich will im Bett liegen bleiben und meine Augen schließen und nichts tun dürfen. Ich will aktiv und fleißig und passiv und faul sein. Ich will mir selbst genug sein.

 

Und mich fine mit mir fühlen.

 

Die Tatsache, dass es nicht nur die Gesellschaft ist, die mir etwas aufzwingt, sondern auch ich selbst, die entscheiden kann, was sie mit ihrem Eimer anstellt, beruhigt mich. In diesem Moment scheint die Distanz zwischen dem Bett mit dem Eimer über und dem Faultier auf mir und dem Gefühl, genug zu sein, zwar riesig und unüberwindbar. Ich muss dem Faultier sagen, dass es gehen kann. Ich muss all die Erfahrungen, Gefühle und Gedanken im Eimer in Konfetti verzaubern, das mein Leben nicht länger beschwert sondern erleichtert. Ich muss meine eigene Definition von Erfolg finden. Und jegliche Gleichungen, die auf Erfahrungen beruhen, mit neuen, unabhängigen ersetzen. Aber ich weiß, dass es möglich ist. Ich weiß, dass ich mir selbst genug sein kann. Und ich weiß, dass ich Mistgabeln und Fackeln auch einfach liegen lassen kann.

 

Ich schlafe mit klopfendem Herzen ein. Und ich weiß, woher das Klopfen kommt. Denn die Schmerzen und schweren Gedanken vom Morgen sind gegangen und die Aufregung vor der Zukunft mit einem Eimer voller Konfetti und ohne Faultier hat sich leise reingeschlichen. Ich schlafe mit klopfendem Herzen und einem leichten Anflug von Genugsein ein.